Lockermassen
- diaphane zonen -


Bettina Zachow, Essen

Spuren von Leiblichkeit

Zu Bettina Zachows Haarobjekten

Sepp Hiekisch-Picard

Seit einigen Jahren nutzt Bettina Zachow die Ausdrucks- und Bedeutungsqualitäten von menschlichem Haar als ihr beinahe ausschließliches bildkünstlerisches Mittel. Ihre sensiblen, aus menschlichem - meist eigenem - Haupt- oder Körperhaar hergestellten Leibbinden, ihre Harnische oder Haarkleider thematisieren auf eine unaufdringlich zurückhaltende, aber umso nachdrückliche Weise das Thema der Leiblichkeit, des 'leiblichen In-der-Welt-Seins' (Hartmut Böhm). Die ebenfalls aus Haaren und aus kleingewaschenen Seifenstücken gefertigten 'Kulturbeuteln' umspielen dieses Leibthema auf eine subtil-ironische Art: Das ausgefallene Haar und die Seifenstücke verweisen auf einen der Öffentlichkeit entzogenen Vorgang; im miniaturhaften Bild der verfremdeten Hygienetasche wird diese Intimität augenzwinkernd unterlaufen und zum Kunststück verwandelt präsentiert. Das menschliche Haar als Grundstoff der feinen Web- oder Knüpfobjekte, die Fragilität, Verletzlichkeit ebenso wie Nähe, Wärme und körperliche Präsenz signalisieren, hat komplexe und vielfältige Bedeutungen. Als Sitz des Lebens und der Seele, als Symbol körperlicher Stärke oder magischer Kräfte, in Opferritualen oder als Grabbeigabe besitzt das Haar seit dem Altertum eine herausragende Stellung. Aus den Haaren des Ur-Riesen Ymir entstehen in der Genesis der nordischen Mythologie Bäume und Gras. Das Haar symbolisiert Leben, Wachstum, aber auch Vergänglichkeit und Verlust. Haar gilt als Schlüssel zur Persönlichkeit des Einzelnen. Das Kahlscheren als Demütigungs- und Unterwefungsgeste beraubt den Anderen seiner Würde und Identität. Die Zopfreliquie lässt einen Teil des gelebten Kinderlebens in die Gegenwart hineinragen. All diese Bedeutungen schwingen in Bettina Zachows zarten Haargeweben mit: Relikte von etwas Vergangenem, Abgestorbenem und gleichzeitig poetische Linienstrukturen im Raum von außerordentlich gegenwärtiger Präsenz und Lebendigkeit. Die Künstlerin reflektiert mit Hilfe ihrer Haarobjekte eigene - weibliche - Körper- und Sinneserfahrungen. Dieses Nachdenken über den Leib geschieht beim verfertigen der Haarobjekte auf eine sehr direkte, auf den eigenen Körper bezogene Weise. Gleichzeitig ist Bettina Zachows Umgang mit ihren künstlerischen Mitteln ausgesprochen reflektiert und philosophisch fundiert. Es geht ihr um eine andere Sicht des Menschen, um ein Aufbrechen des Primats des Visuellen, des Augensinns, der in der westlichen Tradition die anderen Sinneserfahrungen wie Tasten, Hören, Riechen und Schmecken dominiert. Dem rein kognitiven Erkennen der Welt und des eigenen Selbst setzt sie mit ihren Haargeweben sinnliche Anschauungsmodelle eines taktilen, erspürenden Erkennens entgegen: 'Das eigenleibliche Erspüren ist die erste und letzte 'reale Gegenwart' des Daseins, a priori vor dem interiorisierten Körper-Selbstbild. Vom Leibe her ist ... die Welt der Gefühle und Wahrnehmungen zu entziffern'(H.Böhme). Es geht Bettina Zachow in ihren Arbeiten um eine Verständigung des Menschen mit sich selbst und mit der Natur, um die Notwendigkeit, 'dass der Mensch sich selbst in der Natur und die Natur in sich erkennt'(Gernot Böhme). In den Haarkleidern und Harnischen verleiht Bettina Zachow dem Körper wieder eine kunstvoll gefertigte schützende Hülle, die Leibbinden thematisieren den Ersatz der Körperhaarung durch die zweite Haut der Kleidung. All ihre Arbeiten erfordern ein tastendes Sehen, ein dem strukturell ordnendem Sehen komplementäres schweifendes, umkreisendes, fühlendes Sehen. Ihrer Zartheit und Kleinformatigkeit zum Trotz entfalten die Haarobjekte Bettine Zachows auf fast spielerisch leichte Weise einen großen semantischen Reichtum, nicht aufdringlich und Effekt heischend, dafür mit umso größerer Nachhaltigkeit.